KREISELtagung 2021
Fachtag LIVE-ONLINE am 5. September: Belastete Kinder stärken – erst recht nach Corona
Lerntherapie zur Förderung von emotional-sozialer Gesundheit und Lernvermögen
Was für ein runder Tag – plus mehrere Verlängerungstage!
Eine Kurz-Einführung in das Verständnis von Lerntherapie, zwei inspirierende Vorträge, drei aufschlussreiche Interviews, zwanzig Filme, etliche Texte zum Hintergrund!
Für alle, die nicht dabei waren, hier ein ausführlicher Rückblick!
Kurz-Einführung ‚Lerntherapie‘ MEIKE SCHÜLER, MARIEKE KLEIN, JOCHEN KLEIN
Zwei Modelle stehen im Hintergrund der KREISELlerntherapie: Das ‚Ganzheitlich-systemische Erwerbsmodell für Lesen, Schreiben, Rechnen‘ und das ‚Modell der Salutogenese‘, der Entstehung von Gesundheit. Das eine zeigt die engen Zusammenhänge von kognitivem Lernen und Sensomotorik, Sprache und Psyche auf. Das andere, das Salutogenese-Modell, vertieft den Bereich Psyche und liefert ein Verständnis für mangelnde emotional-soziale Stabilität und daraus abgeleitet dann den Schlüssel zur Lösung: Kinder und alle Menschen benötigen Kontakt, Spiel und Dialog für ihre emotional-soziale Gesundheit. Lerntherapie ist u.a. gekennzeichnet durch SPIEL und spielerisches Lernen, durch intensiven KONTAKT und durch ständiges DIALOGisches Wahrnehmen und Handeln. KONTAKT und DIALOG tragen auch in Form einer guten lösungsorientierten Beratung mit Lehrkräften und Eltern zu einer erfolgreichen Lerntherapie bei.
Zwei inspirierende Vorträge
Vortrag 1 – JÖRG MAYWALD: Schon die einleitende Vorbemerkung weckte alle Gedanken auf: Ja, was bedeutet das eigentlich für Kinder mit ihrem kaum ausgeprägten Zeitgefühl, dass sie 1½ Jahre ein Leben unter Corona-Bedingungen geführt haben? 3-jährige kennen ‚kein anderes Leben‘, auch 7- oder 10-jährige haben kaum Erinnerungen an Vorher und können überhaupt keine Vorstellungen davon haben, wie eine Zukunft ohne AHA und ohne elterliche Sorgen aussehen kann!
Kennzeichnend für die tendenzielle Geringachtung von Kindern auch die von JÖRG MAYWALD vorgenommene Aufteilung der Pandemie in 5 Phasen: Erst in der vierten, ab Jahresbeginn 2021, wurden die emotionalen Belastungen von Kindern in Blick genommen, der Wegfall von sozialen Kontakten, von Sport, Spiel, Freizeit. Überhaupt erst seit dem Sommer werden die Schutz-, Förder- und Beteiligungs-Rechte von Kindern stärker wahrgenommen, wie dies die Deutsche Liga für das Kind, Pädagogen, Psychologen, Kinderärzte, Eltern schon lange gefordert hatten. JÖRG MAYWALD nutzte dies, an die Dringlichkeit von Kinderrechten im Grundgesetz zu erinnern: Kinder fehlen in der Politikberatung. Die vielfältigen Belastungen und enormen Kindeswohlgefährdungen und Gewaltopfer sind (leider) dokumentiert, die Spitze des Eisbergs, darunter wuchern in fast jeder Familie die alltäglichen und unzähligen emotional-sozialen Beeinträchtigungen der Kinder und Erwachsenen.
Da war es nicht leicht und doch so wichtig, Studienergebnisse vom ‚Guten im Schlechten‘ zu hören:
Was jetzt hilft
- Auf eigene körperliche und seelische Krankheitszeichen achten und bei Bedarf abklären lassen
- Regelmäßiger Austausch und Schaffung von Reflexionsräumen
- Klare Strukturen und feste Rituale im Alltag
- Bewegungs- und Kreativangebote für die Kinder
- Lernstandserhebung und individuelle Zielvereinbarung (bei Bedarf Nachhilfe oder Lerntherapie)
- Anlassbezogene Gesprächsangebote an Eltern
Und zuletzt noch einmal deutliche bildungs- und gesellschaftspolitische Position und Forderungen
- Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz
- Bekämpfung der Kinderarmut (Durchbrechung des Teufelskreises aus materieller Armut,
Bildungsbenachteiligung und gesundheitlicher Beeinträchtigung) - Inklusive Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Kinderrechtsbasierte Reform des SGB VIII)
- Herabsetzung der Wahlaltersgrenze
Dies ist der politischen Rahmen, innerhalb dessen auch Lerntherapie ihre wichtige Funktion hat!
Vortrag 2 – MONICA BLOTEVOGEL: Besser als mit ihrem einleitenden Schaubild lässt sich Ihr Beitrag nicht zusammenfassen. Das Gehirn als soziales Organ, das Körper und zwischenmenschliche Beziehungen verbindet.
In einer völlig anderen Sprache taucht hier das Konzept der Salutogenese wieder auf!
Und weitere Zitate: „Gesunde Entwicklung ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, für das Bürger_innen gemeinsam Verantwortung tragen. Soziale Gerechtigkeit ist ein Umweltfaktor, den wir nur gemeinsam beeinflussen können“.
„Das Gehirn interagiert ständig mit der physischen und sozialen Umwelt, es ist selber ein ‚soziales ‚Netzwerk‘, denn jede Erfahrung, die wir machen, wird durch dieses Netzwerk Gehirn ‚gefunkt‘, aus häufigen oder intensiven Erfahrungen bilden sich stabile ‚Verkehrsnetze‘“.
Eine zentrale Einsicht aus diesem Verständnis des Gehirns als sozialem Netzwerk
„Auf Dauer kann Stressüberlastung eine negative Wirkung darauf haben, wie wir von zwischenmenschlichen Beziehungen profitieren. Eine mögliche Folge ist, dass soziale Kontakte verkümmern. Einsamkeit und Isolation erhöhen Gesundheitsrisiken.“
Belastete Kinder stärken – erst recht nach Corona! Hilfreiche Beziehungen helfen! „Hilfreiche Gefühle wie Würde und Selbstwert entstehen aus positiven Beziehungserfahrungen.“
Oder in den Worten der Salutogenese: KONTAKT, DIALOG, SPIELE!
Hier einige Rückmeldungen zu den Vorträgen
Drei aufschlussreiche Interviews
Schon in der Einführung und im Beitrag von JÖRG MAYWALD war die bildungs- und sozialpolitische Perspektive eingeführt worden: Lerntherapie-Hilfe darf nicht von Initiative und Einkommen der Eltern abhängig sein, sondern müsste üblicher Bestandteil der Individuellen Förderung in Schule sein. Welche Erfahrungen und Erkenntnisse gibt es dazu? Das war das Thema dreier Interviews mit LISA THOMSEN, ANJA DRESSLER und JOHANNA HILKENMEIER.
ANJA DRESSLER ist Sozialpädagogin und Lerntherapeutin: So baut gerade eine Schule die Lerntherapie auf!
Der Rahmen: Ein sozial schwacher Stadtteil, eine zweizügige Grundschule; Anja ist beauftragt, an einer Katholischen Schule in Düsseldorf Lerntherapie aufzubauen.
Der Einstieg war als ‚pädagogische Fachkraft‘; dabei waren die ersten zwei Jahre etwas schwierig, z.B. wollte die Förderkoordinatorin die Diagnostik weiterhin durchführen. Ressourcenorientierung als konsequente Grundhaltung der Lerntherapie hat geholfen – dies gilt sowohl gegenüber den Kolleg_innen als auch gegenüber den Kindern. Mit einer offenen und multiprofessionellen Haltung hat ANJA die Zusammenarbeit mit den Lehrkräften gesucht.
- Mit viel Respekt und Anerkennung der Kompetenzen der Kollegin sowie mit Freundlichkeit (und Beharrlichkeit) und mit geduldigem Aufzeigen, wie sie als Lerntherapeutin arbeitet, ist inzwischen ist eine gute Teamarbeit entstanden.
- Hilfreich war auch, dass eine Kollegin sie wegen eines Kindes ansprach – und dass dann die Förderung innerhalb von zwei Monaten so wirkungsvoll war!
ANJA konnte jetzt den Rektor überzeugen und (auch durch den inzwischen erlangten KREISEL- und BVL-Titel) für die Lerntherapie gewinnen.
- Der Rektor hat sein Team gut informiert, so dass dann Lehrkräfte schnell um Zusammenarbeit bemüht waren.
- Ideen für Finanzierung: Der Rektor spricht Schulrat an; z.Zt. gibt es Gelder aus dem Topf ‚Extra-Lernzeit‘;
Förderverein und Rotarier haben positive Signale gesendet.
Was war noch hilfreich?
In den Sommerferien und durch die Notbetreuung unter Corona-Bedingungen war ANJA für Kinder und Lehrkräfte eine Konstante vor Ort. Und allen ist deutlich geworden, dass Wissens- UND emotionale Unterstützung erforderlich und möglich ist, gerade auch durch eine Einzelförderung.
HINWEIS aus dem Chat: Es zeigt sich immer wieder, dass sehr viele Lerntherapeutinnen sehr interessiert sind und zugleich sehr frustriert sind, dass die Etablierung und die Finanzierung so unsicher sind. Der unbefriedigende Eindruck bestätigt sich bei den Kontakten zu höheren behördlichen Ebenen (JK).
LISA THOMSEN führt seit 15 Jahren in HAMBURG Lerntherapie IN Schule durch, angestellt und selbstständig:
Erfahrungsschätze aus 15 Jahren Lerntherapie in Schule
Der Einstieg war im Rahmen der KREISELinitiative ‚Früh fördern statt spät ...‘. Sehr wichtig: Durch die vorab definierten Rahmenbedingungen (siehe unten) gab es von Beginn an einen sicheren Raum, was trotz Raumnot immer beibehalten wurde (und von anderen Kolleginnen als extrem bedeutsam bestätigt wird)
Die Kinder kommen auf Vorschlag der Lehrerin, mitunter auf Wunsch von Eltern. Ursprünglich war es ein ‚Früh fördern statt spät ...‘ in der 1. und 2. Klasse. Inzwischen gibt es wegen der Finanzierung als ‚Außerunterrichtliche Lernhilfe‘ (AUL, HAMBURG) ca. ein Jahr Vorlauf bis zur Bewilligung, was für alle Beteiligten unbefriedigend ist.
Hinzu kommen selbst zahlende Eltern, seit ‚finanzkräftigere Eltern‘ im Stadtteil leben, das sind ca. die Hälfte der Kinder. Die Freiberuflichkeit ist zudem hilfreich, da sie davor bewahrt, von der Schulleitung als Lehrkraft eingesetzt zu werden.
LISA: Wichtigste Rahmenbedingungen, damit Lerntherapie gelingen kann
- Schulleitung und Förderkoordinatorin müssen von Lerntherapie überzeugt sein und vor anderen ‚Ansprüchen‘ schützen,
- Die Kooperation mit den Lehrkräften, die sich nach Anlaufproblemen gut entwickelt hat,
- Zusammenarbeit mit Eltern, auch wenn es weniger Austausch gibt als in der freien Praxis; viel geht über Telefon und Mails oder Spiele mit nach Hause,
- Ein Handicap: Die innerschulische Kommunikation ist immer wieder schwierig, so dass Stunden ausfallen durch Änderungen, Wandertage u.a.
LISA schätzt sehr …
- die Zusammenarbeit mit den Lehrkräften, z.B. gemeinsame Initiativen gegenüber manchen Eltern“,
- für die Kinder den unkomplizierten Zugang zur Lerntherapie,
- dass Lehrkräfte sich wirklich unterstützt fühlen,
- die Kinder toll finden: ‚Spiele spielen‘, spielerisches Lernen, Trampolin und Bewegungseinheiten. Die Einzelsituation bietet einen sicheren Ort, es gibt keinen Vergleich mit anderen, Fehler sind in Ordnung; man kann absprechen: was geht schon, was fehlt, was möchtest Du als Nächstes lernen …?
LISAs Wünsche für die Zukunft für Lerntherapie IN Schule
An jede Schule gehört eine Lerntherapeutin, die Kinder haben ein Recht auf wirkliche individuelle Förderung, möglichst früh und möglichst unkompliziert, z.B. müsste eine Lehrerin sagen dürfen „Kannst Du Dir ein Kind mal angucken und ...“, was inhaltlich keine andere Kraft an Schule leisten kann. Es wird sehr viel getestet und es passiert zu wenig.
HINWEISE aus dem Chat: In privaten Schulen ist es nach vielen Erfahrungen leichter, als Lerntherapeutin eingesetzt zu werden.
JOHANNA HILKENMEIER, Lerntherapeutin und Leiterin einer Forschungsstudie
Das sind Gelingensbedingungen für Lerntherapie in Schule!
- Wertschätzung,
- Klare Strukturen bezüglich der Arbeitsteilung – wer hat welche Aufgaben? Dabei sie die Elternarbeit ein Interessantes Detail,
- Gemeinsame Zeit für Gespräche, dies gilt auch speziell Zeit für die Lehrkräfte.
HAMBURGweit (und die gilt auch bundesweit) gibt es sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen, besonders abhängig von den Erfahrungen und der Ausstattung der einzelnen Schule
- Wann ist Zeit für Förderung (Förderband, nachmittags, außerhalb der Unterrichtszeit …)?
- Welche Möglichkeiten zur Finanzierung gibt es?
- Welche Erfahrungen hat Schule schon mit … Honorarkräften, Teamarbeit …?
- Welche zusätzliche Expertise bringen die pädagogischen Mitarbeiter schon mit? (so dass womöglich keine Lerntherapeutin erforderlich ist)
Was sollte eine Lerntherapeutin mitbringen?
- Wertschätzung und Kooperationsbereitschaft,
- Offenheit für klare Strukturen, gleichzeitig Flexibilität gegenüber dem schulischen Alltag,
- Bereitschaft für einen beständigen Austausch über die Struktur der Zusammenarbeit
Beitrag der Eltern
Sehr wertvoll ist deren positive Einstellung gegenüber Schule und gegenüber Lerntherapie, übrigens gar nicht unbedingt die konkrete Unterstützung des Kindes.
Es braucht mehr …
- Forschung: Es fehlen bundesweit Studien und Daten, unter welchen Bedingungen Lerntherapie gut funktioniert.
- Lerntherapeutinnen: Dem (auch durch Corona) wachsenden Bedarf an Unterstützung steht eine zu geringe Zahl an Lerntherapeutinnen zur Verfügung – auch dies gilt bundesweit
- Öffentlichkeitsarbeit: Veröffentlichungen in Tageszeitungen, Fachzeitschriften, Elternzeitschriften und in den Sozialen Medien
- Erfahrungsaustausch zwischen Schulen, die schon Lerntherapie einsetzen
Rahmenbedingungen und weitere Erfahrungen
Ergänzt wurden diese Interviews um verschiedene Texte von der KREISELwebsite wie Hinweise zu Rahmenbedingungen für Lerntherapie IN Schule; Prospekt: "Ein Erfolgs-Projekt im Aufbau": Der Flyer aus der Aufbauphase zeigt wichtige Ergebnisse auf, die sich in den folgenden Jahren immer wieder bestätigt haben. Seit 2009 war der KREISEL Motor und in der STADT CELLE und im LANDKREIS BERSENBRÜCK. Beide erfolgreichen Maßnahmen führten inzwischen zur Ausweitung auf die STADT und den LANDKREIS CELLE sowie auf die Region OSNABRÜCKER LAND (Stadt und drei Landkreise). Erwähnt sei hier auch noch einmal der Info-Film des KREISEL
Zwanzig Filme
Zum WEITERSEHEN hatten wir einen Schatz an Filmen! Diverse Akteure unterschiedlichster Professionen haben den Tag und das Thema ‚Belastete Kinder stärken‘ bereichert: Über Videosequenzen gab es vielfältigen und vor allem praktischen Input zum sofortigen Einsatz in der lerntherapeutischen Praxis, im Klassenzimmer oder auch im persönlichen Bereich!
Was es da alles zu sehen gab! Den Ressourcenanhänger; die Kompetenzwaage; ein Glücksglas und ein Erfolgsglas; ein Lernvideo zum Herstellen von Lernvideos; Lerncoaching – was ist das eigentlich genau? Zaubern für die Lerntherapie („Ich melde mich gleich zur Fortbildung an“); ein Blick in die SchADSkiste; Klopfen mit Kindern; Farben, Formen, Fabulieren; Haus des Wissens; Deutsch als Zweitsprache; ein Fingerparcours; eine Ressourcentrance; (Mathe-)Kinder stärken mit AHAs; Helfende Hände; Stärken-Bingo …
Einige Kommentare
„Schöne Filme mit vielen tollen Inspirationen zum Ausprobieren. Ganz herzlichen Dank!“
„Lauter tolle Filme mit vielen weiteren Anregungen! Herrlich, dass wir die noch in Ruhe anschauen konnten (das hätte ich am Sonntag nicht mehr geschafft). Vielen Dank dafür!“
„Sehr inspirierend!! Und so vielfältig - vielleicht könnte etwas Ähnliches unabhängig von einer Tagung oder einem Fachtag ab und zu mal stattfinden. Das stärkt bestimmt auch unser Gefühl Teil einer Gruppe zu sein - wo doch viele von uns so viel einzeln arbeiten“.
Unser riesengroßer Dank geht an alle Mitwirkenden mit Wort und Film und Text und Technik – und an alle Teilnehmer_innen fürs Dabeisein und Reaktionen wie: „bin bestärkt und motiviert! ... dass hier so viele Menschen zusammen gekommen sind, die etwas bewegen und weiterhin bewegen möchten! Dieser Austausch/ Kontakt (wenn auch nur virtuell) gibt mir neue Energie! => Körperbudget steigt ;-)
Solche Rückmeldung tut auch uns gut!